Das Bundesamt für Landestopografie, "swisstopo", lädt jedes Jahr die Schulklassen der Schweiz zu einer Online-Schatzsuche und einem Wettbewerb zu einem gestalterischen Thema ein.
"Kulturen und Schweizer Traditionen" lautete das Thema für das Schuljahr 2014/2015. Die Klasse 7a der OS Progymatte hat zum Thema "Der Fulehung, ein Narr geht auf Reisen" Geschichten geschrieben, diese mit Scherenschnitten illustriert, damit ein Bilderbuch gestaltet und ein Hörspiel aufgenommen. Diese Arbeiten haben die Jury überzeugt: Die Schülerinnen und Schüler gewinnen den 1. Preis: 1000 Franken für die Klassenkasse und einen Besuch der Landestopografie.
Hier die Geschichte von Jemima Külling, die als Grundlage für das Bilderbuch diente:
Die Titelseite des Buches wurde gestaltet von Elia Aeby
Der Fulehung haut ab
Es war wieder mal Ausschiesset und damit auch Fulehungstag. Die Kinder und ihre Eltern strömten in die Stadt, um ihren Fulehung zu sehen. Die Kadettenmusiker spielten einen fröhlichen Marsch, die Luft war von Stimmen und Gelächter erfüllt. Überall herrschte eine total fröhliche Stimmung. Nur beim Fulehung daheim nicht. Der hockte in seinem alten Sessel in seiner Wohnung und stützte den Kopf in die Hände. Er hasste diesen Tag über alles. Alle lachten ihn an diesem Tag aus. Er fühlte sich in diesen Stunden, als würde man ihm tausend Messer ins Herz stechen. Er wollte nicht mehr! Aber es gab keinen Ausweg. Da draussen warteten alle und wollten ihn sehen. Also gab sich der Fulehung einen Ruck und trat nach draussen. Sofort begannen alle zu lachen und ihren dämlichen Spruch zu rufen: „Fulehung, Souhung!“
Am Abend, als der Narr wieder in seinem Sessel sass, dachte er darüber nach, wie er dieser Sache entkommen konnte. Denn so, wie es war, konnte es nicht bleiben! Plötzlich schoss ihm ein Gedanke wie ein Blitz durch den Kopf: „Ich haue ab!“ Dem Fulehung gefiel diese Idee sehr, und er begann sofort, seine sieben Sachen einzupacken: Sein Taschenmesser, seinen Fotoapparat, eine Tüte mit Sugus, die noch von seinem Stadtrundgang übrig geblieben war.
Als er fertig gepackt hatte, verliess er seine Wohnung, schloss ab und rannte auf direktem Weg zum Bahnhof. Der Gehörnte war noch nie mit dem Zug gefahren, also sprang er einfach in den erstbesten Zug - natürlich ohne Billet.
Der Fulehung genoss seine erste Fahrt mit der Eisenbahn sehr. Als aber nach einer Weile ein Kontrolleur kam und bemerkte, dass dieser seltsame Typ mit den Hörnern und der roten Nase kein Billet hatte, fackelte er nicht lange und schmiss ihn bei der nächsten Station raus.
Der Fulehung rappelte sich auf und schaute sich verwundert um. Wo war er gelandet? Der Fulehung hatte keine Ahnung. Da hörte er plötzlich in der Nähe einen fürchterlichen Lärm. Als er sich verwundert umdrehte, sah er einen Mann, der vor Wut einen ganz roten Kopf hatte und schimpfend hinter einer ängstlich zeternden Gans her rannte. Nach etwa einer Viertelstunde wilder Jagd, schaffte es die Gans endlich, zu entwischen. Schnatternd verschwand sie um eine Hausecke. Der Thuner ignorierte das Gebrüll des Mannes, dessen Kopf inzwischen schon fast lila war, und rannte der Gans hinterher. „Warte doch“, rief er, als er die Gans schon fast eingeholt hatte, „warte!“ Die Gans blieb stehen. „Ist er weg?“, fragte sie den Fulehung. „Wer?“, keuchte dieser, noch immer etwas ausser Atem. „Na, der Metzger natürlich, der mich umbringen wollte!“, die Gans fing schon beim blossen Gedanken an diesen Mann unruhig hin und her zu flattern. „Ja, er ist weg“, beruhigte der Gehörnte die Gans, „aber wieso wollte er dich denn umbringen? Weihnachten ist doch schon längst vorbei!“ Da erzählte ihm die Gans, die übrigens Gansi hiess, dass es hier, in Sursee, einen furchtbaren Brauch gebe: Die „Gansabhouätä“. Bei diesem Brauch, so erzählte Gansi, hing eine tote Gans an einem Strick aufgehängt und Männer, die Sonnenmasken trugen, schlugen so lange auf sie ein, bis der Hals durch getrennt war. „Aber ich will nicht sterben“, zeterte Gansi theatralisch. „Schon gut“, erwiderte der Fulehung, „ich hab eine Idee...“
Eine Stunde später sassen Gansi und der Fulehung im Zug (dieses Mal übrigens mit Billet) und lachten sich schlapp. „Die werden sich wundern, wenn am Strick keine Gans, sondern eine Tüte mit Sugus hängt“, lachte Gansi (von diesem Tag an hiess der Brauch von Sursee übrigens nicht mehr „Gansabhouätä“, sondern „Zältlischlaa“ und alle Gänse der Umgebung wurden ein bisschen älter). Plötzlich hörten der Fulehung und Gansi über den Lautsprecher:
„Wir treffen in Schwyz ein. Endstation, wir bitten Sie, den Zug zu verlassen und hoffen, sie hatten eine angenehme Fahrt. Die SBB wünscht ihnen weiterhin einen schönen Tag.“
Also stiegen der Gehörnte und seine neue Freundin aus. Da hörten sie ein seltsames Geklapper. „Was ist denn das?“, wunderte sich der Fulehung. „Das sind Kastagnetten“, erwiderte ein etwa neun Jahre altes Mädchen hinter ihnen, das den Fulehung gehört hatte und klapperte dazu ein bisschen. Als es die fragenden Gesichter der Besucher sah, lachte es. „Kastagnetten sind zwei Holzplättchen, die man sich an Zeige-, Mittel- und Ringfinger klemmt. Schaut, ich zeige es euch.“ Sie begann, einen Rhythmus zu klappern. ,,Cool“, sagte der Fulehung bewundernd. Bald hatte auch er den Dreh raus und er und das Mädchen, Ellie, klapperten wild drauflos und hatten schon bald eine tolle Choreografie entwickelt. „Damit sollten wir beim Chlefelewettbewerb mitmachen“, rief Ellie begeistert und ihre Augen glitzerten. „Was ist denn das schon wieder?“, meldete sich nun auch Gansi zu Wort, die ein bisschen angesäuert war, da sie ja keine Hände hatte und nur nutzlos neben ihrem neuen Kumpel und dieser Ellie stehen konnte. „Das ist ein kantonaler Wettbewerb für Schulkinder, bei dem die Jugendlichen in Teams gegeneinander antreten. Eine Jury entscheidet dann, welcher Rhythmus am besten ist. Wer den Chlefelewettbewerb gewinnt, kann sich echt was darauf einbilden.“ Der Fulehung war sofort Feuer und Flamme, doch Gansi war nicht sehr begeistert von diesem Schwyzer Brauch, oder, besser gesagt, von Ellie, und brummelte: „Wie kann man nur so etwas Sinnloses zum Brauch machen?“ Doch Ellie erklärte: „Im Mittelalter, als die Pest ein grosses Problem war, warnten Aussätzige und von der Pest befallene Menschen bei ihrer Ankunft die Bewohner schon von Weitem mit den Kastagnetten. So wussten gesunde Leute immer, wann sie abhauen mussten, damit sie nicht angesteckt wurden. Heute ist das Ganze ein Spass für Gross und Klein.“ Das leuchtete Gansi ein. Langsam begann sie, sich mit der Chlefele anzufreunden, auch wenn sie nicht mitmachen konnte und auch Ellie wurde ihr immer ein Stückchen sympathischer. Als Ellie fragte, ob die beiden Besucher nicht mit zu ihr nach Hause gehen wollten, um etwas zu trinken, stimmten die beiden dankend zu, denn auf dieser langen Reise hatten sie ziemlich Durst bekommen. Auf dem Weg unterhielten sich Gansi und Ellie ausgezeichnet und wurden bald dicke Freunde.
Gansi und der Fulehung waren sehr überrascht, als sie sahen, wo Ellie zuhause war: auf einem Bauernhof! Es gab Kühe, Pferde, Schweine, Schafe, Hühner und – eine Schar Gänse mit einem Gänserich! Er, Gansi und die anderen Gänse verstanden sich prima und auch mit den anderen Tieren freundete sich Gansi schnell an. Da wurde Gansi plötzlich ganz nachdenklich. Doch der Fulehung und Ellie kriegten davon gar nichts mit; sie übten vom Morgen bis am Abend ihren Rhythmus, denn am Montag war schon der Wettbewerb! Dann war es so weit: Alle versammelten sich unter dem Dach des Festzeltes und die Jury nahm an ihrem Tisch Platz. Alle Kinder, die sich angemeldet hatten, führten nach und nach ihr Geklapper vor, auch der Fulehung und Ellie. Als alle fertig waren, tuschelte die Jury eine ganze Weile vor sich hin. Schliesslich erhob ein Jurymitglied, ein nett aussehender, dunkelblonder, um fünfundzwanzig Jahre alter Mann, das Wort: „So. Wie ihr ja alle wisst, kann nur ein Team gewinnen, aber bevor ich gleich die Gewinner verkünde, möchte ich noch Danke sagen, dass ihr alle mitgemacht und so viel Zeit in eure Rhythmen gesteckt habt.“ Die Leute applaudierten. „Und nun kommen wir zu unserem Siegerteam...“ Sofort wurde es totenstill und mindestens hundert gespannte Augenpaare starrten den jungen Mann erwartungsvoll an. „Die Gewinner heissen“, fuhr der Typ fort und machte eine geheimnisvolle Pause, „Ellie und der Fulehung!“ Tosender Applaus brach aus und die stolzen Sieger traten nach vorn. Die Jury legte ihnen Medallien um den Hals. „Herzlichen Glückwunsch!“
Wenig später sassen alle drei, Ellie, Gansi und der Fulehung auf einem Mäuerchen in der Nähe und teilten sich eine grosse Portion Pommes Frites mit Ketchup. Da sagte Gansi plötzlich: „Ich möchte bei Ellie und Dieter bleiben.“ Der Thuner verschluckte sich vor Schreck an einer Fritte. „Was?! Wieso? Und wer ist Dieter?“, hustete er. „Dieter ist der Gänserich, der auf Ellies Hof wohnt. Naja... ich fühle mich einfach total wohl bei den anderen Gänsen und Ellie, weisst du? Ich hoffe, du verstehst das.“ Schliesslich waren Ellie und der Fulehung einverstanden. „Ist wohl das Beste für dich“, meinte der Fulehung, „und ich will langsam wieder weiter. Es ist zwar schön hier, aber ein Leben in Schwyz wäre doch nichts für mich.“ Ellie und Gansi waren zwar ein bisschen traurig, aber sie konnten den Fulehung zu nichts zwingen. Ausserdem konnte man sich auch besuchen. Wohnort, E-Mailadresse und Telefonnummern wurden ausgetauscht und Gansi schenkte dem Gast aus Thun zum Abschied ihre allerschönste Feder.
So zog der Fulehung weiter. Inzwischen liebte er das Fahren mit dem Zug, deshalb entschloss er sich, auch weiterhin die Eisenbahn als Reisemittel zu benutzen. Als er im Abteil sass, bemerkte er, wie müde er von all den Eindrücken war und ihm fielen die Augen zu. Als der Gehörnte erwachte, bemerkte er, dass der Zug, in dem er sass, auf einem seltsamen Bahnhof mit vielen Zügen, aber ohne Passagiere gelandet war. Er stieg aus und fragte einen herumstehenden Zugführer, der gerade eine Zigarre rauchte, wo er denn hier gelandet sei. „Werter Herr, sie befinden sich auf einem Abstellgeleis“, antwortete dieser gelangweilt und ein bisschen Tadel schwang in seiner Stimme mit. „U-und wie komme ich hier wieder weg?“, fragte der Fulehung ratlos. „Laufen“, sagte der Mann und ging. Na toll, dachte der Fulehung, aber was sollte er machen? Also trottete der Fulehung los, immer den Zugschienen nach, damit er die Orientierung nicht verlor.
Nach drei, vier Stunden Fussmarsch, kam unser Narr in einem kleinen Städtchen an, in dem alle französisch sprachen. Zum Glück war Französisch früher in der Schule sein Lieblingsfach gewesen. Er erkundigte sich, wo er denn jetzt sei. „In Ependes“, antworteten die Leute. Da hörte er plötzlich von einem Hauseingang aus ein helles Stimmchen ein französisches Chanson singen. Er schaute nach und sah ein kleines, etwa sieben Jahre altes Mädchen mit einer niedlichen, braunen Hochsteckfrisur, das einer alten Dame gerade dieses Liedchen vorsang. Als es fertig war, applaudierte die alte Dame und gab dem Mädchen ein paar Münzen. Das Mädchen bedankte sich und ging zum nächsten Hauseingang. Bevor es jedoch klingeln konnte, rief der Fulehung: „Warte mal! Was tust du da?“ Das Mädchen, das sich später als Marie vorstellte, wandte sich um. „Noch nie etwas vom Maisingen gehört?“ Der Fulehung verneinte. Marie erklärte: „Bei uns in Ependes gibt es jedes Jahr einen Tag, an dem wir Kindern bei allen Haustüren klingeln und etwas vorsingen. Dafür bekommen wir dann Geld. Den Leuten, vor allem denen, die etwas älter sind, gefällt das, weil sie dann Gesellschaft bekommen, und nicht mehr so allein sind und uns Kindern natürlich wegen des Geldes und weil wir an diesem Tag schulfrei bekommen.“ Dem Fulehung gefiel dieser Brauch. Nun zog er mit Marie gemeinsam um die Häuser und sang. Später stellte Marie ihren neuen Freund – den sie „le gentil rouge“ nannte, da eine rote Nase hatte – ihren Freunden vor. Die Kinder und „le gentil rouge“ hatten es sehr lustig zusammen.
Doch „le gentil rouge“ erinnerten diese Kleinen an seine „eigenen“ Kinder in Thun, die ihn am Fulehungstag auslachten und mit ihren kleinen Gesichtern fröhlich anstrahlten. Als Marie allen Tschüss gesagt hatte, lief der Fulehung allein durch die verlassenen Strassen. Er hatte Heimweh. Er wollte wieder zurück. Doch wie sollte er das anstellen? Er hatte keine Ahnung, wie er überhaupt hierher gekommen war, wie sollte er dann den Weg zurück wissen? Irgendwann legte er sich auf ein Mäuerchen und schlief ein. Als der Narr erwachte, traute er seinen Augen nicht. Über sich erblickte er das Schloss Thun! Wie war das möglich? Er stand auf und bemerkte, dass das vermeintliche Mäuerchen, auf das er sich am Abend zuvor gelegt hatte, eigentlich der Anhänger eines Lastwagens war, der offensichtlich einem Fahrer aus Thun gehörte. Da rannte plötzlich ein kleiner Junge auf ihn zu. „Fulehung!“, brüllte er erfreut und klammerte sich an die Beine des verdatterten Fulehungs – weiter hoch kam er mit seinen geschätzten 120 cm nicht. „Wir haben dich vermisst, Fulehung“, sagte der Kleine, „Wo warst du?“ Vor lauter Gerührtheit konnte der Fulehung nicht antworten. Da schossen plötzlich von allen Seiten mindestens fünfzig Thuner Kinder hervor, umringten ihren Fulehung und riefen durcheinander: „Der Fulehung ist wieder da!“, „Wo warst du?“, „Du kannst doch nicht einfach abhauen!“ oder: „Versprich, dass du nie mehr abhaust!“ Der Fulehung versprach es, hob jedes Kind einzeln hoch und drückte es an sich. „Auch ich habe euch vermisst!“
Von da an war der Fulehung einfach nur glücklich in Thun, liebte die jährliche Wiederkehr des Ausschiessets über alles und warf mindestens zehn Mal so viele Sugus wie früher aus den Fenstern.
Und eines Tages kam eine E-Mail von Ellie: Gansi und Dieter hatten kleine Küken gekriegt! Eines davon trug den Namen: „Fulehung“.